"Jeanny" in der DDR

Dies sind zwei Artikel aus der DDR Zeitschrift "Junge Welt", in der sich ein "Redakteur der Abteilung Nachrichten Außenpolitik" über "Jeanny" und den Kapitalismus aufregt. Höchstinteressant!
Herzlichen Dank an
Torsten für die Scans der Artikel.

 

Kommentar vom 16.1.86 [?]

Was ein neuer Disco-Titel in der BRD bewirkt:
Mit Stimmbändern Würde erdrosselt

"Jeanny" heißt der neue Disco-Titel Nummer 1 in der BRD. Er hat in vielen Köpfen eingeschlagen wie eine Bombe. Die allerdings nach innen losgeht, indem sie Furcht verbreitet. Denn purer Sadismus ist in kulturellem Gewand aufmarschiert. 
 

"Jeanny" schildert die kranke Gedankenwelt eines Mannes, der ein Mädchen entführt, vergewaltigt und ermordet hat. Die Platte wurde bereits einige hunderttausend Mal verkauft. Und damit genauso oft die menschliche Würde. Das BRD-Fernsehen entdeckte darin alllerdings auch positive Aspekte. Ein Moderator am Dienstagabend: "Gott sei Dank sind auch die Wucherungen der Demokratie ein Beweis für die Freiheit, die wir alle genießen."
Damit hat wohl auch die Perversion des Denkens im Kapitalismus wieder eine Bereicherung erfahren. 
Wolfgang Kohrt
 

Dies ist nun ein weiterer Artikel einige Tage später...

So sehe ich das - Wolfgang Kohrt

Ist Falcos "Jeanny" ein Protestsong?

Es gehört zum Alltag unserer Redaktion, daß Leserbriefe kommen. Wir freuen uns über Post, weil für uns das Gespräch mit dem Leser zu den schönsten Ergebnissen und Impulsen unserer Arbeit gehört. In einem Kommentar vom 16. Januar hatte ich zu dem Falco-Titel "Jeanny" die Meinung geäußert, daß damit Sadismus im kulturellen Gewand verbreitet wird. Im wahrsten Sinne des Wortes postwendend kam von vielen Lesern eine Reaktion. Carola Röhme aus Sandersdorf z.B. schreibt, - das Lied ‘Jeanny’ ist für mich wie ein Lied, das die gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD kritisiert..." Stefan Fromme aus Leipzig fordert, wir sollen 'gerecht kritisieren'. Viele fragen, warum das Lied im DDR-Rundfunk lief. Das fragen wir uns auch.
Thomas Michael aus Halle ist einer derjenigen, die sich meiner Meinung nähern. In bezug auf Kunst, Kultur, äußert er: "Wesentlich ist doch dabei, daß man der Menschlichkeit und Menschenwürde zum Durchbruch verhilft. Eben darum ging es mir, ud nicht um eine prinzipielle Ablehnung Falcos, über den jeder seine eigene Meinung haben mag. Aber leider konnte ich bei "Jeanny" nicht erkennen, daß für Menschlichkeit und Menschenwürde gesungen wird.

x

x

Natürlich, man darf von einem Schlager nicht zuviel verlangen. Aber auch nicht zu wenig. Natürlich haben auch wir anspruchslose, auch seichte Lieder. Aber seicht ist doch nicht gleich inhuman. Es doch unstreitig so, daß jeder Künstler mit seinem Beruf automatisch Verantwortung übernimmt. Vor seinem Publikum, vor seiner Umwelt. Ob er will oder nicht, er wird zum Botschafter euber Idee, die durch die modernen Medien Spuren in Millionen Köpfen hinterläßt. Vielleicht ist dadurch seine Verantwortung sogar weit  größer, als die der Künster früherer Jahrhunderte. Falco jedenfalls wir ihr, meiner Meinung nach, nicht gerecht. In “Jeannys” Gesellschaftsordnung kollidiert wirkliche Kultur, auch Schlagerkultur, oft mit den Interessen von Verkaufsstrategen. Deshalb wird oft von vorneherein ein kulturelles Produkt auf hohe Absatzzahlen zugeschnitten. Dazy braucht man nur irgendeine neuartige (abartige?) Idee, kein Ideal.
Selbst wenn man im günstigsten Fall von Zweitdeutigkeit ausgeht, bleibt alles eine wohlkalkulierte Häßlichkeit. Der Musikredakteur Thomas Brennecke vom Bayrischen Rundfunk in der BRD brachte es auf diesen Nenner: In der Unterhaltungsindustrie ist es egal, mit welchen Methoden man den Absatz sichert, Hauptsache, das Geschäft stimmt. Wenn inzwischen unter dem Eindruck des Protestes in der BRD eine Fortsetzung von "Jeanny" angekündigt wurde, in der sich alles in Wohlgefallen auglösen soll, ist das für mich nur eine Bestätigung dessen.